Was braucht es wirklich, um die Welt zu verändern – still, wirksam und nachhaltig?
Ein innerer Dialog mit einem Freund, dessen Vermächtnis bleibt.
Gestern habe ich erfahren, dass ein Freund von mir gestorben ist. War er ein Freund? Hätte man mich vorgestern gefragt, hätte ich gesagt, Josep Capellà war ein Mensch, mit dem ich auf sehr freundschaftliche Art beruflich verbunden war. Es ist drei Jahre her, seit wir das letzte Mal gesprochen haben.
Mir kommen die Tränen, während ich dies schreibe. Ich habe ein Gefühl von Versäumnis, das Gefühl, kostbare Gelegenheiten verpasst zu haben, von diesem kreativen und hochintelligenten Pionier der nachhaltigen Tourismusentwicklung an der Costa Brava zu lernen. Aber mehr noch als um die Schönheit seines Geistes trauere ich darum, dass ich nicht mehr fühlen darf, wie sein Herz schlug, für das, was er tat. Josep Capellà war für mich ein Mensch, der mir wie kein anderer gezeigt hat, was es bedeutet, sein Land zu lieben.
Josep und das Meer
In diesem Moment sehe ich Josep. Im Tauchanzug steht er am Meer, bereit, sein Boot ins Wasser zu schieben. Er schaut auf die Medas-Inseln. Das warme Licht der Sonne eines späten Nachmittags funkelt auf den Wellen des Meeres und in seinen Augen. Die goldenen Strahlen der Nachmittagssonne wärmen seine Schultern.
Die Medas-Inseln sind das Wahrzeichen des Küstenortes L’Estartit an der Costa Brava. Der Küste vorgelagert liegen sie im Meer, als seien sie Steinchen, die ein Riese beim Strandspaziergang aufgelesen und dann am Ende doch ins Meer geworfen hat. Die wenigsten wissen, welche Schätze sie hüten. Die wenigsten ahnen, in welchem Maße das Schicksal L’Estartits an die Medas-Inseln gebunden ist.
Schatzinseln
Der Meeresforscher, Tauchpionier und Filmmacher Jacques-Yves Cousteau war einer der wenigen, die schon früh um die Schätze wussten, die im Schatten der kleinen Felsinseln im Meer liegen. Als Taucher erkundete er bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Schönheit der Unterwasserwelt im Gebiet um die Medas-Inseln. Jahrzehnte später wurde dieses Gebiet als schönstes Naturreservat des westlichen Mittelmeers ausgezeichnet. Maßgeblich beteiligt an der Einrichtung dieses Meeres-Reservates war Josep Cappelà.
Wie oft habe ich mit Josep zusammengesessen und ihm zugehört, wenn er über Tourismusentwicklung sprach. Ich hatte nie den Eindruck, dass wir über Arbeit sprachen. Viel mehr fühlte es sich an, als sprächen wir immer über seine größte Leidenschaft. Tourismusentwicklung war Josep Capellàs ganz persönliche Weise, für eine schönere und bessere Welt zu kämpfen.
Die Rettung der Medas-Inseln
Zu den beeindruckenden Ergebnissen seines Schaffens gehört die Deklarierung der Medas-Inseln zum Meeresschutzgebiet in den frühen 80er-Jahren. Den Plan hierfür hatte Josep entwickelt und ausgearbeitet. Gott weiß, wie viele Tauchgänge um die Inseln, durchwachte Nächte, Sitzungen, Diskussionen und Übungen im bürokratischen Hochreck-Turnen die Deklaration dieses Meeresreservats gekostet haben mag. Eine offizielle Richtlinie zur Deklarierung von Meeresschutzgebieten gibt es in Europa erst seit 1992. Josep fuhr damals einer Ahnung folgend nach Aix-en-Provence, wo es ein exzellent ausgestattetes Dokumentationszentrum für touristische Studien gab – und wurde fündig. Die Medas-Inseln wurden unter Naturschutz gestellt und damit vor der Korallenfischerei bewahrt, die zu diesem Zeitpunkt dort eigentlich hätte erlaubt werden sollen.
Stattdessen wurden die Medas-Inseln zu einer Keimzelle des Tauchtourismus in L’Estartit, der eine völlig neue Klientel anzog als der auf Masse angelegte Strandtourismus vorheriger Jahrzehnte. Das alte Tourismus-Modell hatte einen Kurs des maximalen Wachstums verfolgt. Die ursprüngliche Planung hatte vorgesehen, die Zahl der Unterkünfte in dem kleinen Küstenort auf 120.000 zu versechsfachen. Nur zehn Prozent des Wohnraumes wären dann noch für die lokale Bevölkerung verfügbar gewesen.
Ein Vermächtnis
Als Josep gemeinsam mit anderen jungen Gleichgesinnten Anfang der 80er Jahre ins Rathaus gewählt wurde, begann eine neue Ära für L’Estartit. Der Schutz der Naturlandschaften wurde nun durch die Ausarbeitung offizieller Baupläne sichergestellt. Neben dem Tauchtourismus wurden unter anderem Angebote zum Kayak fahren und Wandern durch die Buchten der Costa Brava und Rad- und Reitrouten durch das Hinterland entwickelt. Die vielen unterschiedlichen Angebote reduzierten den ökologischen Druck auf die Ökosysteme der Region. Last but not least erwies sich das neue Tourismus-Modell als wirtschaftlich so erfolgreich, dass selbst diejenigen, die vorher Naturschutz als Stolperstein für wirtschaftliche Entwicklung betrachtet hatten, ihren Frieden damit schlossen. Im Jahr 2010 wurde die Landschaft um Torroella de Montgrí – L’Estartit als Naturpark unter Schutz gestellt.
Ich erinnere mich, mit welcher Zufriedenheit Josep darüber sprach, dass dieser Schritt nicht mehr rückgängig gemacht werden könne, egal welche Regierungen in Zukunft die Geschäfte im Rathaus übernehmen würden. Wir saßen in seinem Haus in L’Estartit, dem Küstenort, der mit Torroella eine Verwaltungseinheit bildet. Seine Frau Inma hatte gekocht und natürlich hatten wir Rotwein aus dem Empordà getrunken. Der Naturpark, das war Josep in jedem Moment bewusst, war Teil seines Vermächtnisses.
Die Wiederherstellung des Paradieses
Doch es reichte ihm nicht, zukünftigen Schaden abzuwenden. Josep wollte auch entstandene Schäden wiedergutmachen. Als Tourismusberater bemühte er sich nicht nur um die Regenerierung sogenannter „reifer Reiseziele“ (aka von billigen massentouristischen Infrastrukturen entstellten Ortschaften). Eines seiner preisgekrönten Projekte war die Renaturierung eines Feuchtgebietes, das in den 80er Jahren als Bauland freigegeben worden war. Die große Siedlung, die dort errichtet werden sollte, wurde nie fertiggestellt. Doch ihre Ruinen blieben als Mahnmal der Bausünde an ebendiesem Ort stehen, an dem einst das Meer und der Fluss Ter einander trafen.
2014 begann die Renaturierung des Feuchtgebietes, 2019 stand ich mit Josep an jenem Stück Strand, an dem Salz- und Süßwasser nun wieder eine Lagune bilden. Die Flamingos hatten bereits bemerkt, dass hier ein idealer Lebensraum für sie geschaffen worden, war und Joseps Augen leuchteten. Mit der ihm eigenen Mischung aus Präzision und Enthusiasmus erklärte er mir, in welcher Weise dieses Feuchtgebiet nicht nur hilft, die Artenvielfalt zu erhalten, sondern auch Überflutungen vorzubeugen.
Ein stiller Held
Josep liebte sein Land. Er kämpfte unerschrocken, ohne jede Aggression. Seine Waffen waren ein scharfer Geist, eine große Vision und eine erstaunliche Geschicklichkeit in der Handhabung bürokratischer Prozesse. Dies ist eine seiner Fähigkeiten, die ich am wenigsten verstehe und gerade deshalb vielleicht am meisten bewundere. Er scheute sich nicht, hunderte von Formularen auszufüllen, sich unermüdlich durch Gesetzestexte zu graben, Subventionen zu beantragen, Projekte zu planen, genehmigen zu lassen, bürokratische Lücken zu erkennen, die ihm erlauben würden, seine Vision umzusetzen. Seine eigene Arbeit im Namen des Umweltschutzes und der Bewahrung der kulturellen Identität der Region schützte er mit ebendiesen juristischen Mitteln davor, in Zukunft von seinen Nachfolgern verändert, verwässert oder gar zerstört zu werden.
Und ich? denke an Godot...
Ich habe nie verstanden, wie ein so kreativer Mensch fähig sein kann, so viel Zeit mit bürokratischen Prozessen zu verbringen. Wenn ich einen Personalausweis beantragen muss, befällt mich innerhalb von 30 Minuten das Gefühl, als Ritter von der traurigen Gestalt gegen Windmühlen zu kämpfen. Wenn es schlimmer kommt, werde ich apathisch und denke an Godot. Josep dagegen, übte sich in der Beherrschung solcher Prozesse, um das Beste für sein Dorf, seine Stadt, seine Heimat, sein Land zu tun. Mochte er es, Tausende von Formularen auszufüllen? Nein, er mochte es, auf das weite Meer zu schauen. Er mochte es, mit dem Boot zu den Medas-Inseln zu fahren und dann tauchend die Schönheit der Unterwasserwelt zu genießen.
Die schönere Welt konsensfähig machen
Sicherlich mochte er es, die Ganzheit des Problems der wirtschaftlichen Entwicklung und der Bewahrung der Schönheit seiner Region vor seinem inneren Auge zu sehen, Verbindungen zu knüpfen und die Vision einer schöneren Welt zu weben. Und dann redete er mit seinen politischen Gegnern, mit seinen Verbündeten, füllte Formulare aus und schuf in einem bescheidenen Büro unterhalb seiner Wohnung ein Vermächtnis, das fortdauern wird.
Ich sehe das warme Licht am Strand Pletera, der nun nicht mehr von Beton erdrückt wird. Ich höre das Rauschen der Wellen und fühle den Wind auf der Haut und Wellen, die um meine Füße spielen. Ich sehe das Licht über einem Himmel von so berauschender Klarheit, dass die surrealen Landschaften des Salvador Dalí nicht mehr als eine logische Konsequenz sind. Ich bin umgeben von einer Schönheit, die mir fast das Herz zerreißt. Und ich bin nicht alleine. Denn ich weiß, Josep, ein Teil von dir ist in jedem Einatem, den das Leben mir schenkt und in jedem Ausatem, den ich an diesen wundervollen Ort zurückgebe.
In die Stille lauschen
Ich lausche den Bewegungen des Lebens und versuche, die Bedeutung des Augenblicks zu verstehen. Um eine große Vision zu erden und zu verwirklichen, ist nicht nur Idealismus, sondern vor allem Realismus vonnöten. Gefragt ist die Fähigkeit, unseren Ideen für eine schönere Welt eine Form zu geben, die sie in einer Welt überlebensfähig machen, die weit von einem idealen Zustand weit entfernt ist. Es braucht Sitzfleisch und Bereitschaft, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, so wie sie ist. Nicht gerade meine Stärke. Aber vermutlich das, was in diesem Moment gefragt ist, in meinem Leben.
„Welches Vermächtnis will ich hinterlassen?“, frage ich mich, während ich an dich denke, Josep. Es ist eine Frage, der ich nachgehen werde. Das Leben ist zerbrechlich, und wir wissen nicht, wann unsere Stunde kommt. Jetzt ist die Zeit, mit den Füßen fest auf dem Boden zu stehen und zu fragen: „Was muss ich konkret in diesem Moment tun, um in der wenig idealen Welt, in der ich lebe, Dinge zum Positiven zu verändern?“
So einfach. So schwer.
Adeu, Josep! Ich werde nicht aufhören, von dir zu lernen.
Danke, wie schön, dass ich Josep jetzt auch ein wenig kennen darf. Du hast ihn durch deinen Beitrag wunderbar lebendig werden lassen. Für euch beide: Chapeau ❣️